Man sieht ihn nicht und hört ihn nur nachts. Trotzdem ist der Krieg für den FK Mariupol ein Thema. Denn der ostukrainische Erstligist spielt Fußball kurz vor Front.
Aus den Lautsprechern dröhnt erst Rockmusik, dann erklingt die ukrainische Nationalhymne. Viele Ohren erreicht sie nicht, denn am Eingang des Bojko-Stadions in Mariupol sieht man mehr Ordner als Besucher. Obwohl die Stadt am Ufer des Asowschen Meeres fast eine halbe Million Einwohner hat, wollen nur 3200 Menschen das Heim spiel des FK Mariupol gegen Dnipro se hen.
”Wir könnten mehr Unterstützung gut gebrauchen", sagt die 22-jährige Studentin Lera, die nie ein Spiel versäumt. Doch sie weiß auch, wer schuld an allem ist. „Einige junge Männer sind im Krieg umgekommen, andere deswegen weggezogen”, sagt Lera. „Und viele sind gerade in der Armee und kämpfen.“ Sie kämpfen gerade mal zwanzig Kilometer vom Stadion entfernt, denn dort steht die ukrainische Armee seit mehr als fünf Jahren den von Russland unterstützten Truppen der sogenannten Volksrepublik Donezk gegenüber. Der FK Mariupol ist der einzige professionelle Fußballklub, der im Konfliktgebiet in der Ostukraine noch Heimspiele austrägt.
Die meisten der Zuschauer, die 40 Hrywnja - umgerechnet etwa 1,50 Euro - für ein Ticket bezahlt haben, lassen sich auf mitgebrachten Sitzkissen auf der Haupttribune oder der Gegengerade nieder. Man knabbert Sonnenblumenkerne und flucht hin und wieder. Sechs Fans aus der rund 300 Kilometer entfernten Millionenstadt Dnipro halten sich im Gästeblock in der Kurve warm, indem sie unablässig ihr Banner schwenken. Voll ist es nur an dem kleinen Imbiss am Hinterausgang. Dort werden in einem improvisierten Bierpavillon heißer Tee und kalte Backwaren verkauft. Nebenan, in der Raucherecke, riecht es nach Zigarettenqualm. Dass man den überhaupt bemerkt, liegt daran, dass das Stahlwerk Illich Iron & Steel Works auf der anderen Straßenseite am Wochenende nicht arbeitet. Sonst verpestet es zusammen mit dem zweiten Stahlwerk, drüben am Meeresufer, die Luft. Für seine Luftverschmutzung ist Mariupol selbst in der Ukraine berüchtigt. Dabei firmiert die Stadt offiziell als Kurort - weil sie einen Strand hat.
Beide Stahlwerke gehören dem reichsten Mann der Ukraine, Rinat Achmetow. Er ist zudem der Besitzer des Klubs Schachtar Donezk, den er seit den neunziger Jahren mit seinen Millionen auch international zu Erfolgen geführt hat, etwa zum UEFA-Cup-Sieg 2009 im Finale gegen Werder Bremen. Seit Jahren ist Donezk Dauergast in der Champions League. Mariupol hingegen backt kleine Brötchen. Erst vor zwei Jahren stieg man wieder in die erste Liga auf, im Sommer stand man in der Qualifikation zur Europa League und schied gegen Alkmaar aus. Vielleicht auch, weil man nicht im Bojko-Stadion spielen konnte. „Unsere internationalen Heimspiele müssen wir in Odessa austragen, also rund 800 Kilometer entfernt“, erklärt Andrij Sanin, der Vizepräsident und so eine Art Manager des Vereins. Wegen des Krieges ist der Flughafen von Mariupol nämlich seit Jahren geschlossen. Das ist nur einer von sehr vielen Standortnachteilen. Sanin sagt: „Bevor der Krieg nicht vorbei ist, werden wir keinen größeren Erfolg haben können.“
Fußball kann hier eben nur eine Nebensache sein. Auch wenn zuletzt mehr von Friedensgesprächen die Rede war, sterben an der Front regelmäßig Menschen. Mehr als 13000 Tote sind es seit 2014. Auch in Mariupol selbst wurde im Juni 2014 noch gekämpft. Ein paar Ruinen im Stadtzentrum sind noch immer zu sehen. Im Januar 2015 gab es mehr als 30 Todesopfer, als Raketen in einem Wohnviertel einschlugen. In einem der Häuser, die damals getroffen wurden, wohnte auch Lera. Laut OSZE kamen die Raketen aus Richtung der Separatisten; anschließend drängten ukrainische Truppen die Front weiter von der Stadt weg. Dass unter diesen Umständen überhaupt ein Profiklub funktioniert, ist ziemlich erstaunlich. Welcher Fußballer spielt schon freiwillig in einer Stadt, in deren unmittelbarer Nähe Granaten explodieren?
Nun, jemand wie Kapitän und Torwart Rustam Khudzhamow. Er ist mit 37 Jahren der Methusalem der Mannschaft, denn die meisten Feldspieler sind erst Anfang zwanzig. Khudzhamow fühlt sich wohl in der Stadt, erzählt er. Im Sommer könne man ans Meer und die Stadt sei sehr grün. Angst wegen des Krieges habe er nicht. „Von den Kämpfen bekommt man im Alltag nicht viel mit“, sagt er. „Man muss schon sehr genau hinhören, um nachts die Schüsse zu vernehmen. Es ist weniger geworden. Vor drei Jahren hat man noch jede Nacht Explosionen gehört.“
Doch selbst das hat ihn seinerzeit nicht davon abgehalten, nach Mariupol zu wechseln. „Ich kannte den Klub“, sagt er. Von 2012 bis 2014 hat er schon in der Hafenstadt gespielt. Und bei Schachtar, wo er zwischendurch sein Glück versucht hat, kam er nicht über die Ersatzbank hinaus. „Die Leute von hier haben mir gesagt, dass es nicht mehr gefährlich ist“, erklärt der Routinier. „Ich habe die Entscheidung nicht bereut.“
Zumindest sportlich gibt es auch keinen Grund dafür. Mit Khudzhamow zwischen den Pfosten schaffte Mariupol zuerst die Rückkehr in die oberste Liga und wurde dann zweimal Sechster. In der laufenden Saison ist die Elf allerdings nach passablem Saisonstart in die untere Tabellenhälfte abgerutscht. Lera ist besorgt. „Wir haben ein paar Punkte abgegeben, die wir nicht hätten verlieren dürfen“, sagt sie. „Aber noch sind die Plätze für die Qualifikation zur Europa League erreichbar. Alles hängt davon ab, ob der Verein die Spieler auch über die Winterpause hinaus halten kann.“ Das ist beim Klub ein Dauerproblem. Von 24 Spielern in Mariupols Kader sind zehn von Schachtar ausgeliehen. Wer gut spielt, wird zum Serienmeister zurückbeordert, so verlassen jeden Sommer und jeden Winter die besten Spieler den Verein. „Das ist ein Problem für den Klub, weil die Mannschaft sich nie einspielen kann“, sagt Lera. Der Trainer der Elf, Oleksandr Babych, sieht das naturgemäß pragmatischer. „Wenn sich größere Vereine für unsere Spieler interessieren, zeigt das doch, dass wir sie gut ausgebildet haben“, sagt der Coach, der das Team seit zwei Jahren betreut.
Als wären die nahe Front, die begrenzten Finanzmittel und die große Fluktuation im Kader nicht schon genug Probleme, hat der Klub nun auch noch Ärger mit seinen Fans. Die Ultras boykottieren gegenwärtig die Heimspiele, weil sie der Meinung sind, dass der Verein sie nicht stark genug einbindet. Und auch wegen der fehlenden Zukunftsaussichten. „Wir sind nur eine Art Farmteam für Schachtar und werden so niemals um Titel spielen können“, sagt der 24-jährige Oleksij. Er ist schon seit seiner Kindheit Fan des Vereins und schloss sich als Teenager den Ultras an. („Ich wollte nicht nur rumsitzen, schimpfen und Alkohol trinken wie die normalen Zuschauer“, erklärt er.) Heute arbeitet er als Manager einer Kette von Pizzeria-Filialen und studiert nebenbei an der Uni in Mariupol Politikwissenschaft. Da ist wenig Zeit für den Fußball übrig, aber bis auf weiteres bleiben Oleksij und die anderen dem Stadion ja eh fern. „Es hat einfach keinen Sinn, sich Spiele anzusehen, die ohnehin keine Bedeutung haben“, sagt er.
Vizepräsident Sanin ist der Mann, der sich mit diesen und anderen Problemen herumschlagen muss. Der 45-jährige war bis 2017 in verschiedenen Funktionen bei Schachtar tätig und hat gute Kontakte. So erklären sich auch die vielen Leihspieler von Donezk, die Sanin aus einem bestimmten Grund holt: Er möchte nicht in Transfers investieren, sondern in die Zukunft, in die Zeit nach dem Krieg. Und das bedeutet, Geld in die Jugendarbeit und in die Infrastruktur des Vereins zu stecken. Mariupol plant gerade, sein Stadion ab 2020 für umgerechnet vier Millionen Euro zu einem reinen Fußballstadion umzubauen.
Sanin führt durch das Trainingsgelände auf einem Hügel zwischen Innenstadt und Strand. Weithin sichtbar thront dort eine mächtige Sporthalle mit einem Kunstrasenplatz in Wettkampfröße. Die hat der 2015 verstorbene Besitzer Wladimir Bojko dem Verein Anfang der Nullerjahre spendiert. Der neue starke Mann im Klub heißt Tarik Chaufhry, ein gebürtiger Pakistaner, der in den achtziger Jahren in Mariupol studiert hat und anschließend Karriere in der Stahlindustrie machte. Ihm gehören mehrere Firmen, doch in der Liste der superreichen Oligarchen findet man ihn nicht. Seine Investitionen in den Verein fallen dementsprechend weniger groß aus. „Da hinten“, sagt Vizepräsident Sanin und deutet stolz in den Nebel, „installieren wir gerade Flutlicht auf einem Trainingsplatz. So kann er von mehr Mannschaften genutzt werden.“
Das wird vor allem der Jugend helfen. Rund 300 Kinder trainieren in vielen Jugendteams in verschiedenen Sportarten, neben Fußball gibt es zum Beispiel Basketball und Turnen. „Wir sehen das als unsere soziale Verantwortung“, sagt Sanin. „Das Training bei uns ist kostenlos. Natürlich sei es auch hilfreich, um Talente zu entdecken. „Das ist unsere Strategie“. Für Sanin ist es auch eine Aufgabe des Klubs, Mariupols Image aufzupolieren. Wenn überhaupt, sagt er, sei die Stadt im Ausland nur wegen des Krieges bekannt. Dabei entwickle sie sich inzwischen ganz gut, Straßen und Häuser werden nach und nach saniert. Es gibt neue Restaurants, Kneipen und sogar Festivals. Einen Beobachter aus dem Westen macht die Nähe der Front unbehaglich, doch in Mariupol hat man sich mit dem Krieg arrangiert, weil man es musste.
Das gilt auch für die gesamte Liga, denn durch die Annexion der Krim durch Russland verlor die Premier Liha die beiden Teams aus Simferopol und Sewastopol. Diese zwei Vereine spielen nun in Russland in unteren Ligen. Schachtar und Olimpik Donezk sowie Sorja Luhansk mussten derweil den besetzten Donbas verlassen und tragen heute ihre Heimspiele teilweise hunderte Kilometer entfernt von ihrer Stadt aus. Und auch Mariupols Gegner, der FK Dnipro, hat so seine Sorgen. 2015 hieß die Stadt noch Dnipropetrowsk und stellte mit ihrem schwierig auszusprechenden Namen so manchen internationalen Kommentator vor Herausforderungen, als der Verein das Finale der Europa League gegen Sevilla erreichte (und knapp verlor). Der schillernde Oligarch Ihor Kolomojskyj hatte für das nötige Kleingeld gesorgt, doch ein paar Monate später überwarf er sich mit Staatspräsident Petro Poroschenko. Buchprüfer hatten nämlich entdeckt, dass in den Bilanzen von Kolomojsyjs PrivatBank, der größten des Landes, ein Loch von mehreren Milliarden Dollar klaffte. Um die Bank zu retten wurde sie verstaatlicht. Der Oligarch verschwand für Jahre auf seinen Answesen in Israel oder Zypern und drehte dem heimischen Fußballklub den Geldhahn zu. Inzwischen ist er zurück und klagt vor diversen Gerichten auf Rückgabe seiner Bank - den Verein will er bisher aber nicht zurückhaben.
Und so ist der kleine FK Mariupol inzwischen auf Augenhöhe mit dem einstigen Europacupfinalisten. Vielleicht sogar mehr als das, denn Lera und die anderen Fans sehen einen 1:0-Sieg ihrer Elf. In dieser Saison hat die junge Frau noch kein Heimspiel verpasst, die U21- und U18-Teams eingeschlossen, auch wenn bei den Spielen der Nachwuchsmannschaften manchmal niemand sonst zuschaut. „Ich gebe echt alles für den Verein“, sagt sie. Einige Wochen später wird sie mit dem Heimspiel gegen Donezk belohnt. Diesmal sind die Tribünen trotz Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt vergleichsweise gut gefüllt. Spiele gegen Schachtar sind hier, am Rande des Kriegsgebietes, richtige Festtage. Mehr als 8200 Zuschauer kommen an diesem Nachmittag Anfang Dezember. FK Mariupol gerät früh in Rückstand, doch nach der Pause gelingt der Ausgleich. Die Heimelf rettet das Unentschieden über die Runden. Der Punkt gegen den Favoriten macht Mut und gibt etwas Hoffnung Für die Zukunft. Für die Zeit nach dem Krieg.
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Text: Marco Zschieck & Julia Romanova